Harnsteine als Votivgaben 2

Harnsteine als Votivgaben in Grafrath

Teil 2

Häufigkeit, Vielfalt und Aktualität der Anliegen der Wallfahrt zum Heiligen Rasso in Grafrath

Von Prof. Dr. med. C. Döhlemann

St. Grafrath hat als Spezialwallfahrt bei Unterleibserkrankungen gegolten, da in den Einträgen der Mirakelbücher (Anm. 1) die große Zahl der Bruchleiden und Harnsteinerkrankungen auffällt.
Davon zeugt auch die beträchtliche Anzahl von Harnsteinen als Votivgaben (Anm. 2), so dass dieser Ort als urologischer Wallfahrtsort und der heilige Rasso als Schutzpatron der Steinlei-den bezeichnet wurde (Anm. 3).
Doch sind in den Wunderbüchern eine große Anzahl anderer Anliegen vermerkt und von Kramer in einer Übersichtsarbeit publiziert (Anm. 4).
Schon 1640 hat Keferloher, ein Dießner Chorherr, einen Bericht über den „weit berühmten Nothelfer und Heiligen Grafen Rasso“ geschrieben. Er teilte die breit gefächerten Wunderbe- reiche in 33 Kapital ein (Anm. 5). Darunter sind nach ihrer Reihenfolge zu erwähnen: seeli-sche und geistige Krankheiten, Verzauberte, Fallsucht, Schlaganfall, Befreiung aus Gefäng-nis, Vergiftung, Schlangenbiss, Verletzung, Stürze, Unfälle, Pest, Blattern, Infektionen (auch bei Rindern), Kopfschmerzen, Augenleiden, Blindheit, Zahnschmerzen, Mängel des Gehörs, Gebrechen der Füße, des Rückens, der Schulter, der Lenden und der Hüfte. Dazu kommen Leiden des Unterleibs, der Gebärmutter und des Kindbetts, Brustschmerzen, unregelmäßige Regel, Unfruchtbarkeit, Geburtsnöte, Lähmung, Krämpfe oder Fieber, tödliche Verletzung, bzw. Krankheit, Verkrümmung und Lähmung, Verlust der Sprache, Gebrechen der Arme, Hände und Finger, Geschwüre im Mund, an der Zunge und in der Speiseröhre, Erbrechen, schwere Krankheit, Harnfluss, Harnverhalten, blutiger Harn, Geschwulste und Schmerzen der Geschlechtsteile, Harn- und Nierensteine, verschiedene Leibschäden und Brüche.
Im Folgenden sollen die Leiden in ihrer Häufigkeit in den Aufzeichnungen der Mirakelbücher nach Tabellen von Kramer (Anm. 4) und Döhlemann (Anm. 6) zusammengefasst, sowie ein- zelne Einträge hervorgehoben werden, die tiefe Einblicke ermöglichen und uns heute noch berühren.
Diese Tabellen können allerdings retrospektiv nicht zu einer ganz detaillierten Beschreibung der einzelnen Anliegen dienen. Darüber hinaus ist eine Umgruppierung einiger Anliegen, zum Beispiel von Hautkrankheiten in Infektionskrankheiten oder Magen- Darmerkrankungen, in internistische Erkrankungen zu diskutieren. Auch wäre eine Gruppierung in Kinderkrankheit-en möglich. Hier sind aber detailliertere Daten erforderlich. Die Transkription von Daten-banken, die zum Teil schon erfolgt sind, werden dies ermöglichen (Anm. 7). Dann wird auch der zeitliche Verlauf von Häufigkeiten einzelner Anliegen über Jahrhunderte besser beant- wortet werden können.

Bruchkrankheiten, Harnsteinleiden
Häufig sind allgemeine „große“ Krankheiten oder Leibschaden angegeben (siehe Tabelle 1), so dass sich hieraus keine Diagnose stellen lässt.
Zweifelsohne ist aber am häufigsten das Bruchleiden (einbezogen Leisten-, Hoden- und Nabelbruch) in den Mirakelberichten zu finden. Die Heilung geschah „zur Stunde“, augenblicklich, oder nach und nach, eine Operation war gefährlich. So hatten zwei Männer je einen Sohn mit einem Bruch: der Eine verhieß seinen Sohn nach Grafrath „vnd kam der knab selber her zuo dem grab vnd da er Also peÿ dem grab sasß da daucht In wie Im etwer seinen pruch zu- osamen zuch als mit einer schnuor vnd da er also das merck et da griff er also an die zeprochne stat da fand er das sÿ ganz gehailt“. Aber der andere Mann wollte St. Grafrath nicht vertrauen und ließ deshalb seinen Sohn am Bruch operieren, was prompt tödlich endete (1. Band, Mirakel 294). Am nächst häufigsten sind Eintragungen, die urologische Leiden be- treffen (1165=8,6 % der Gesamteintragungen. Eine genauere Beschreibung erfolgte im vor- angehenden Kapitel (Anm. 8).
Eine Reihe vom Harnsteinen konnten durch Infrarotspektroskopie identifiziert werden, einige wegen Glasüberdeckungen aber auch nicht. (Abb. 1)

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Abb.1
In der Mitte ein im Metall gefasster Stein unter Glas (fraglicher Harnstein 0,5 x 0,8 cm). Links daneben Madonna in Metall. Beachte, ähnliche Metallfassung wie der benachbarte (Harn-) Stein unter Glas. Rechts darunter in Papier gewickelter Harnstein (hier nicht erkenntlich mit einer in der Infrarotspektroskopie typischen Zusammensetzung von Ammoniumhydrogenurat).

Extremitäten, Knochen, Zähne
Eine große Anzahl der Eintragungen betrifft die Extremitäten (Verletzung, Verwundung, Ent- zündung). Als Beleg für eine Entzündung dienen in den Beschreibungen lang dauernde große Schmerzen, Schwellung, Brand, Löcher und außerdem die als Votivgaben dargebrachten Knochenstücke, die heute noch als abgegangene Knochensequester einer Osteomyelitis gedeutet werden können. (Abb. 2) Die als Votivgaben dargebrachten nativen Zähne (siehe Abb. 1c in Anm. 8) weisen auf Zahnleiden hin, die nach den Mirakelberichten oft einen schweren Ver- lauf hatten. So hatte eine Frau einen „söllichen wetag der zen das sÿ v’schwal vnd ir die red gelag“, also nicht mehr reden konnte (1. Band, Mirakel 1.256).

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Abb. 2
Etwa 8,5 x 0,5 cm großer, unregelmäßig begrenzter makroskopisch typischer Knochensplitter (Infrarotspektroskopie: Calzit, mit Knochen vereinbar). Es handelt sich wahrscheinlich um ein Knochensequester bei Knochenentzündung (Osteomyelitis).
Links ein in Metall gefasster im Durchmesser etwa 0,5 cm großer Harnstein (Infrarotspektroskopie: Ammoniumhydrogenurat, typisch für Harnstein). Reste roter Seide, am Boden Krümel unklarer Zusammensetzung. Rechts Metallscheibe mit Ring.

Frauenkrankheiten
Geburtsnöte waren oft schwer. Das zeigt eine Frau , „die arbat zuo einem kind und kam das kind nach der zwerch In muo ter leib also das man besorget ma’ kem vm’ die muot’ vnd das kind her v’lobt gepar sÿ gelicksalig“ (1. Band, Mirakel 2.506). Krankheiten im Kindbett, Menstruationsstörungen und Krankheiten der Gebärmutter waren weitere Gelöbnisanlässe: „eine erbere fraw die het die per muot [=Gebärmutter]“ (1. Band, Mirakel 3.851); dies war eine Bezeichnung für alle möglichen, wohl auch krampfartigen Beschwerden des Unterleibs, die in Votivgaben in Krötenform ihren bildlichen Ausdruck fanden.
Schmerzen und Schwellungen der Brüste waren weitere Gründe.

Organbezogene Erkrankungen
Lungen- und Herzbeschwerden zeigten sich in Seitenstechen, Husten, Herzschmerzen und „Herzgesperr“ (=angina pectoris). Den Mund befiel Fäule, Magen und Darm betrafen Grim- men, Kolik, „Darmvergicht“ und Ruhr.
Unter Infektions- und interne Erkrankungen finden sich heterogene Krankheitsbilder, die sich oft nicht organspezifisch einordnen lassen: Fieber, „Frörer“ (=frieren), Abzehrung, Schwindsucht, Gelbsucht, Wassersucht, Blutungen, „Vergicht“ (Reißen und Zucken des Körpers, Krämpfe besonders im Kindesalter; (siehe Höfler, Anm. 9)) und „Fraisen“ (=volkstümliche Bezeichnung für schreckenerregende plötzliche Anfälle, besonders im Kindesalter). Bei „Vergicht“ (Vorkommen in Mirakelbuch Band 1) und „Fraiß“ (Vorkommen in Mirakelbuch Band 2, 3) kann man davon ausgehen, dass es sich wohl um Infektkrämpfe gehandelt hat. Die „Kalte Vergicht“ in Mirakelbuch 2 und 3 ist wohl dem Rheumatismus zuzuordnen (Anm. 9).
Von andren Anfällen wird bei drei Kindern erzählt, die so heftig husteten, dass sie „offt Er- schwartz Seind worden vnd Inen dass pluet zue dem Mund ist außgangen / vnd hatt offt ver- maindt / Sÿ werdenn im Erstickhenn“ (1. Band, Mirakel 5.487). Es könnte sich bei diesen Kindern um Keuchhustenanfälle mit Blausucht und Bewusstlosigkeit gehandelt haben.
Pest, Blattern, „Blëstl“ (=Blasen), Ausschlag, Rotlauf u.a. wurden wegen ihrer Hautmani- festation in der Tabelle 1 den Hautkrankheiten zugeordnet. Aus der Häufung der Pestangab- en in den Nummern 2.000-3.000 (23-mal) hat Kramer die Seuche etwa in die Zeit um 1475 datiert und ihr Ausbreitungsgebiet auf den Raum München, Augsburg und Landsberg lo- kalisiert (Anm. 4).
Verletzung, Blindheit, Geschwüre, Schleimauflagerungen betrafen die Augen. So hat eine Bäuerin ein Kind gehabt, „dem was ein schliem über ein aug gewachsen vnd kund Im nÿmat dar von helffen da v’hiesß sÿ das kind her sand graf rat vnd ward gesund (Band 1, Mirakel 240).
Hauptsymptome bei Ohrenkrankheiten waren schlechtes Hören bis Taubheit, Ohrenfluss und Blutung, Geschwür und Würmer. So hat ein Kind „gross’n prech’n In oren also das Im der auß gieng’n wol xx würem“ (1. Band, Mirakel 1.231).

Neurologische Leiden
Kopfleiden, Kopfschmerzen, Lähmung, Geisteskrankheiten, fallende Krankheiten, Tobsucht und Sprachlosigkeit wurden neurologischen Krankheitsbildern zugerechnet. So war bei einer Frau eine Lähmung der Hände aufgetreten, bei der „die hend geschlaff’n lange zeit als des sÿ nichz dar mit mocht duon“ (1. Band, Mirakel 356). Mit Verheißung einer „wächsen“ Hand wurde ihr geholfen. Oder es hat ein Mann einen Schwindel über viele Wochen gehabt, „als das er offt hin fuol vnd lag als sam er tod wer“ (1. Band, Mirakel 582). Mit Geloben eines „wachsen man“ wurde er gesund.
Bei Verwirrung und Umtriebigkeit wurden die Menschen an Ketten gebunden. So ist ein Mann „vier woch’n vnsynnig gewes’n also das man In xiiii tag pinden muost mit iii eÿsnen keten vnd fünff man muosten sein hÿetten tag vnd nacht“ (1. Band, Mirakel 227).

Unglück, soziale Schicksale
Unter Unglücksfällen und sonstigen Anliegen begegnen uns soziale Schicksale wie bei einem Knäblein aus Geisenbrunn; diesem waren Vater, Mutter und ein Brüderlein an einem „Brechen“ (Infektionskrankheit?) gestorben und so ist das Knäblein „in dem Haus . 7 . wochen gelegen . In dem wintter . In der grösten këltten nur allein . vnd vo’ fremden leitt’ Ernert word’“ (1. Band, Mirakel 5.592). Dies Knäblein ist (wohl von den Nachbarn) in das würdige Gotteshaus nach Grafrath verheißen worden mit zwei Pfennigen ;vnd alle Jar zinspar“ „ist Im kain laidt widerfaren vnd ist frisch vnd gesunt: pis auf die Stund . […] anno 73“ – d.h. 1573 (1. Band, Mirakel 5.592). Kann das Kind aus hygienischen Gründen alleine gelassen worden sein? Ist das Kind in eine andere Familie oder in ein Waisenhaus gekommen?

Taufe
Die Taufe ist für Christen ein ganz wesentliches Sakrament, weshalb einst versucht wurde, frühgeborene Kinder auch in sehr frühen Stadien wenigstens für kurze Zeit am Leben zu erhalten, um sie taufen zu können. So hatte „Anna K. […] nun xiii woch’n trag’n vnd kam sÿ ein kranckat an die das kind von ir trib eineß fingers lang vnd sach kein leb’n an Im“, da rief die Frau Sankt Grafrath an, „er solle dem kind [bzw. dem Foetus] ein Leben geben und ver- hiess eine Gabe“ – zustund ward sÿ das kindlen rüeren vnd lebet also piß das der priester dauffett“ (1. Band, Mirakel 4.340).

Sterbehilfe
Auch damals wünschte der gepeinigte Mensch, wenn die Heilung schon nicht mehr möglich war, wenigstens das Ende des Leidens, den Tod: „Item Matheis mair der siechet xv jar stet der ruoft an sand graf ratt das sein leid’n ein end nem da starb er zustund an“ (1. Band, Mirakel 3.612). Diese Sterbehilfe zeigt, wie innig und vertraut das Verhältnis der Menschen zum Heiligen war. Um das Seelenheil zu erlangen erbaten Sterbende, zuletzt noch bei Sinnen, beichten zu können. So hat ein Mann nach schwerer Kopfverletzung nicht mehr reden, bzw. beichten können. Nach Verheißung zum Heiligen konnte er „von Stund an reden und beichten seine Sünden und am dritten Tag nahm er ein vernünftiges Ende seines Lebens“ (1. Band, Mirakel 1.159).

Fazit
Nicht nur Bruch- und Steinleiden sind in den Aufzeichnungen der Mirakelbücher von Graf- rath zu finden, sondern auch eine große Vielfalt anderer Anliegen, die einen weiten medizini- schen Bereich betreffen, bis hin zur Palliativmedizin und Sterbehilfe, deren Sinn heute immer aktueller diskutiert wird. Den Wert des Lebens erkennt man aber auch daran, wie wichtig für die damaligen gläubigen Menschen selbst bei extremen Frühgeborenen die Taufe war. Über die große Anzahl der Wunderaufzeichnungen hinaus werden damals noch weit mehr Men- schen mit ihren Krankheiten, Familien- und Alltagssorgen zum Wallfahrtsort Grafrath ge- pilgert sein. Doch dürften die Aufzeichnungen in den Mirakelbüchern ein treffliches Bild davon abgeben.

Anmerkungen

Für die großzügige Bereitstellung der Objekte möchten wir uns bei den Patres des Klosters Grafrath bedanken. Desweiteren beadanken wir uns sehr bei Herrn Dr. Ernst Meßmer und Herrn Josef Gulden für die Bereitstellung der transskribierten Texte der Mirakelbücher, deren Edition geplant ist.

Besonderer Dank gilt Frau Katharina Kreye sowie Johannes Kreye und Herrn Architekt Hans Kreye für die Bearbeitung der Bilder.

1. Handschriftliche Eintragungen von Gebetserhörungen in 3 Mirakelbüchern aus den Jahren 1447-1728 in Grafrath. Beschreibung und Geschichte: Ernst Meßmer: Das wundersame Grab von Graf Rasso. St. Ottilien 2004

2. Christoph Döhlemann, Angelika Ellert, Monika Güntner, Jürgen Durner, Nina Gockerell, Ernst Meßmer, Michael Vogeser: Infrarotspektroskopie von alten Harn-steinen aus den Votivgaben der Wallfahrtskirche Grafrath. In: Der Urologe 50 (2011), S. 466 ff.

3. Peter Dorner: Der heilige Rasso, ein Schutzpatron der Steinleidenden. In: Amperland 6 (1970) S. 66, 95

4. Karl-Sigmund Kramer: Die Mirakelbücher der Wallfahrt Grafrath In: Bayer. Jahrbuch für Volkskunde 1951 S. 180

5. Genauere Beschreibung und Angabe der Quellen siehe Ernst Meßmer: Das wunder-same Grab von Graf Rasso. St. Ottilien S. 233

6. Christoph Döhlemann: Über urologische Leiden aus volkskundlichen Quellen einiger Wallfahrtsorte aus dem 15.-18. Jahrhundert. Dissertation München 1967

7. Eine Edition der transkribierten Texte der einzelnen Mirakelbücher ist von Herrn Josef Gulden und Dr. Ernst Meßmer geplant.

8. Christoph Döhlemann: Harnsteine als Votivgaben in Grafrath. In: Amperland 2012 Heft 1

9. Max Höfler: Deutsches Krankheitsnamenbuch. München 1899

Fotos: Katharina Kreye