Harnsteine als Votivgaben 1

Harnsteine als Votivgaben in Grafrath

Teil 1

Untersuchung der Harnsteine durch Infrarotspektroskopie

Von Prof. Dr. med. C. Döhlemann

Die Wallfahrtskirche Grafrath besitzt einen einzigartigen Bestand von Votivgaben. Neben den Votivtafeln finden sich über 200 Harnsteine, meist kunstvoll in Metall oder in Glas gefasst, aber auch 46 Knochenstücke und 18 Zähne. Darüber schrieb 1904 der Volkskundler Richard Andree: »Eine große Menge brandig, abgestoßener Knochen mit Krankheitsschilderung, sehr viele, oft recht große Harnsteine, Harngries in Fläschchen, kleine Medizinflaschen mit unbestimmten Inhalten, Haarnadeln, Lumpen, Bruchbänder und Mutterringe (Pessarien), Krücken, Zöpfe, Zähne usw. Daneben Muttergottesbilder, Kreuze, Rosenkränze, silberne Kröten, Körperteile in Wachs und Silber, eine teils ekelhafte, teils wunderliche Sammlung.« 1 Nur ein Teildieser Gaben ist in die heutige Zeit herübergerettet, ein Teil davon ist im Bayerischen Nationalmuseum aufbewahrt.

Mirakelbücher

Des Weiteren besitzt das Pfarrarchiv Grafrath drei wertvolle Mirakelbücher aus den Jahren 1444–1728 mit 12 131 handschriftlichen Eintragungen von Gebetserhörungen unter Angabe von Wohnort, Name bzw. Geschlecht des Betroffenen, manchmal auch Alter, familiärem Status (Kind, Sohn, Tochter usw.), Krankheit, Symptomen und Art des Opfers. Sie stellen eine wertvolle Originalquelle für medizinhistorische, ethnologische und sprachkundliche Fragen dar. Eine statistische Aufarbeitung der 12 131 Einträge ist vonseiten der Volkskunde 2 und der Medizin 3 bereits erfolgt. So zeigt sich, dass 1165 (8,6 %) der Eintragungen Harnsteinleiden betreffen, wovon 70–75 % auf Kinder entfallen. Neue Untersuchungen der als Opfer dargebrachten und bis heute erhaltenen Harnsteine mittels Infrarotspektroskopie ergaben diesbezüglich Zusammensetzungen vor allem in Form von Ammoniumhydrogenurat, die heute nur noch selten vorkommen. 4 Vergleichbar sind sie mit denen in einer Sammlung alter Steine aus dem 18. und 19. Jahrhundert aus Norwich in England. 5 Sie treten in endemischer Häufung auch noch im 20. Jahrhundert in einigen Ländern mit überwiegend agrikultureller Bevölkerung (zum Beispiel in Nordthailand) auf. 6 Ziel dieses Beitrags ist es, zusammengefasst die Ergebnisse der infrarotspektroskopischen Untersuchung darzulegen. Was lässt sich in Kombination mit den Eintragungen in den Mirakelbüchern für eine Aussage über die Genese der Harnsteinleiden und die Art ihres Auftretens machen? Darüber hinaus sollen auch andere dort verzeichnete Krankheiten betrachtet werden und solche zitiert werden, die Probleme ansprechen, die damals aktuell waren und uns auch heute noch betreffen.

Infrarotspektroskopie der Harnsteine

Es wurden aus Grafrath und dem Bayerischen Nationalmuseum (Bestände Grafrath) 283 Votivgaben nach Form, Größe, Farbe und Oberfläche beurteilt und daraufhin in 222 Harnsteine, 46 Knochen und 18 Zähne geordnet. Zusätzlich kamen drei an Votivtafeln befestigte Harnsteine zur Untersuchung. Insgesamt wurden 166 Proben an 139 Objekten (134 Harnsteine, fünf Knochen) mittels Abkratzens eines maximal stecknadelkopfgroßen Partikels genommen, sodass die Steine nicht zerstört wurden. Bei den 88 in Glas gefassten Steinen konnte keine Probe entnommen werden, auch nicht bei solchen Objekten, wo Gefahr bestand, das Arrangement oder die kunstvolle Fassung zu zerstören (Abb. 1a–c, 2).
Im klinisch-chemischen Labor Großhadern (Leitung Prof. Dr. Vogeser) wurden die Proben mit Kalium-Bromid zu hauchdünnen Tabletten gepresst, mit Infrarotlicht durchleuchtet und davon Absorptionsmuster erstellt, die für die einzelnen Zusammenstellungen und Mischungen der Harnsteinkomponenten charakteristisch sind. Als laborinterne Kontrollgruppe zu den Grafrather Harnsteinen dienten 98 Einsendungen von Harnsteinproben in das Klinikum Großhadern aus den Jahren 2007/08.
Von den 139 Objekten zeigten 127 in der Infrarotspektroskopie typische Harnsteinkomponenten, vier zeigten Gips, drei Calcit (bei den Knochen), zwei waren untypisch, drei nicht auswertbar.
Am häufigsten zeigte sich in der Grafrather Sammlung der Harnsteine in den Spektren die Substanzkomponente Ammoniumhydrogenurat (68 %), während diese Komponente nur bei 1 % der heutigen Kontrollgruppe gefunden wurde. Der Anteil von Harnsäure (12 % versus 8 %) und Phosphaten (15 % versus 22 %) wies nur geringe Unterschiede auf, während Oxalate früher erheblich seltener vorkamen (18 % versus 69 %). 7 Beim Vergleich der prozentualen Häufigkeit von Harnstoffkomponenten zu verschiedenen Zeiten und Gebieten 8 lässt sich das Grafrather Kollektiv in seiner Zusammenstellung und Häufigkeit der Harnstoffkomponenten in die Gruppe des alten Europa und der unterentwickelten Länder Asiens einordnen, die der Kontrollgruppe 2007/08 in die von USA und Europa des 20. Jahrhunderts. So zeigt sich ein ähnlich hohes Vorkommen von Ammoniumhydrogenurat wie in Grafrath in der Kollektion alter Harnsteine im Norwich-Hospital-Museum aus dem 18. und 19. Jahrhundert und in einigen ländlichen Bezirken Asiens auch im 20. Jahrhundert, etwa in Nordthailand. In diesen Ländern ist eine typische Trias festzustellen: endemische Blasensteine im Kindesalter und Ammoniumhydrogenurat als häufige Harnsteinkomponente. Bei der Grafrather Harnsteinsammlung fehlen aber Altersangaben, abgesehen von drei Harnsteinen mit Texten auf drei Votivtafeln. Indirekt kann man aber aus den Altersangaben der Eintragungen in den Mirakelbüchern 9 schließen, dass auch im Grafrather Kollektiv der abgegangenen Steine diese häufig von Kindern stammen.

Vergleich mit Thailand

Aus dem Überwiegen der Harnsteinkrankheit im Kindesalter und der Häufigkeit der Harnsteinkomponente Ammoniumhydrogenurat wie im alten Europa und heute noch in den unterentwickelten Ländern Asiens lässt sich folgern, dass es sich auch im Wallfahrtseinzugsgebiet von Grafrath um ein endemisches Gebiet für Harnsteine gehandelt hat mit häufigen Blasensteinen im Kindesalter und typischer Uratkomponente in ihrer Zusammensetzung. Die Ursache hierfür ist unbekannt. Diskutiert werden Blaseninfektionen mit Urat spaltenden Keimen. In endemischen Blasensteingebieten standen aber die Infektionen nicht im Vordergrund.
Eher erscheinen Ernährungsgewohnheiten mit relativem Eiweißmangel eine Rolle zu spielen. 10 So konnte aufgezeigt werden, dass in der armen Landbevölkerung Nordthailands zehnmal häufiger Blasensteine vorkommen als in der dortigen reichen Stadtbevölkerung. Die Säuglinge der armen Landbevölkerung bekommen schon in den ersten Lebenswochen eine Zusatznahrung mit Klebereis und Bananen, an Muttermilch hingegen wird gespart. Daher sind diese Säuglinge im Vergleich zu denen in der Stadt untergewichtig. Gleichzeitig nimmt deren Urinvolumen ab und ändert sich seine Zusammensetzung. 11 Mangelndes Stillen und Aufpäppeln der Säuglinge mit Mehlbrei waren bis ins 19. Jahrhundert auch in Bayern üblich, sodass hier eine ähnliche Situation eines Flüssigkeitsdefizits mit relativem Eiweißmangel denkbar wäre. Heute sind die Harnsteinträger meistens 40 bis 60 Jahre alt, die Häufigkeit im Kindesalter liegt bei < 1 %. Bei Urolithiasis 12 im Kindesalter muss man an angeborene Stoffwechselanomalien wie Cystinurie 13 oder Hyperoxalurie, 14 an eine Überfunktion der Nebenschilddrüse 15 oder an Missbildungen der ableitenden Harnwege denken. Bemerkenswerterweise wurde im Grafrather Kollektiv in der Infrarotspektroskopie kein Cystinstein 16 gefunden, ein Hinweis darauf, dass die Cystinurie damals entweder sehr selten war oder gar nicht vorkam. Harnsteinerkrankung in den Mirakelbüchern Die Symptome der Harnsteinkrankheit sind in den Mirakelbüchern oft drastisch geschildert: »ein puebel hat das grieß [Harnsteinchen] so heftig das man vermeint es sturb«, »krancks zerprochenes kind an dem stain«, »die haben gehabt zwei jar den reißenden stain«, »der siechet gräßlich am stain vil wochen« oder »nit schlaffen vor wetag [Schmerzen] vnd schriej als eine frow zu eine kind« (1. Band). Und ausführlicher in barocker Zeit: »Im 11 Mai 1678 er scheint alhier« eine Mutter aus Kirchheim mit »ihrem Söhnlein Frantz Edwin, vorgelaut, dass erstgemeldts Söhnlein, solch groß vnd unausstechliche schmerzn an den grieß lange Zeit gelitten, dass es sich auf den poden unter tisch vnd pankh wie ein wurmb vnd wie ein affig thier umbgewälzt, in welchen Zustand er vill vnd underschidliche mitl angewandt vnd gebraucht worden, aber alle umbsonst.« Als sich dann seine Eltern dem hl. Grafrath anvertrauten, ging es dem Kind von Tag zu Tag besser (2. Band, Mirakel 1.154). Auch auf die nicht selten lange Dauer der Harnsteinerkrankung wird in den Mirakelberichten eingegangen. So hat ein Sohn »gehabt den stain von juget auf mit grossem leiden den ver hÿesß [verhieß, verlobt] er her sand graf rat [St. Grafrath] und gieng'n von Im xiii [13] stain vnd ward also gesund« (1. Band, Mirakel 3.209). Oder es hatte ein Vater aus »puzprunne" (Putzbrunn) »ein khnëbl [Knäblein] beÿ ist ein ganz Jar khranckh gelegen, vnd ein stainle von Ime gangen. Alher v'lobt [verlobt, versprochen] mit ainer meß ist Ime geholff« (1. Band, Mirakel 6.099). Häufig sind wohl mehrmals Steine abgegangen. So hat ein Vater seinen zehnjährigen Sohn »treÿ malen her v'haissen am stain vnd ist allweg gesu'd word'n« (1. Band, Mirakel 820). Harnverstopfung war ein häufiges Symptom der Harnsteinerkrankung. Es gibt 303 Eintragungen in den Mirakelbüchern: 17 »Item Jörg vogt der lit den harm stain vnd mocht xiiii tag nit harmen [Harn lassen]« (1. Band, Mirakel 3.594), ein Kind, »das da siechert am stain vnd mocht dar vor nit harmen« (1. Band, Mirakel 2.603), oder »Simon […] hat ainen Zuestandt im rerl [= Harnröhre] gehabt, also d[as]s er zu Zeiten nit harmen khinden, so baldt es sich aber alhero mit 2. wexen Gramen [wächserne Hoden] versprochen, ist ein staindl von ihme gang[en]« (2. Band, Mirakel 352). Auch ist gelegentlich die Größe der abgegangenen Steine, seltener die Farbe beschrieben: »in einer viertel stundt eines erbis [Erbse] gleichen steinlein (…) getrieben worden (3. Band, Mirakel 3.456), »ein Stainle von Ime gangen wie ürbes [Erbse] vnd vber 8 Jar widerumb ein Stainle v'Ime [von/aus ihm] gangen noch grösser als ein ürbes (1. Band, Mirakel 6.238)«, »3 jr Kind sehr starkh an einem stain gelitten (…), innerhalb einer stund ohn angewandt oder gebraucht mitl ein stain groß eines zweschgen Khernes von ihm gangen« (3. Band, Mirakel 3.551). Weitere Größenangaben: »groß wie ein ponnen [Bohne]«, »ein ziemliches stainlein«, »stain eines forderen [Finger-]gelids lang, »eines haselnuß groß«. Farbangaben: »brauner Stein«, »schwarzer Stein« oder »roter grieß«. Die in den Mirakelbüchern angegebenen Größen passen zu den in Grafrath erhaltenen Steinen, die häufig erbsen bis bohnengroß sind (Abb. 1 und 2). Die in den Votivgaben untersuchten 30 größeren Steine (> 9 x 9 mm) sind häufig Harnsteinkomponenten-Gemische, vor allem mit Brushit. 18 Bei vier auffallend großen Steinen (> 40 x 32 mm) fand sich innen und außen Gips, sie sind daher als Artefakte zu bezeichnen (Abb. 1).

Hinweise auf Steinschnitte

Von den untersuchten größeren Steinen (> 9 x 9 mm) konnten nicht alle spontan abgegangen sein. Über Steinschnitt wird 22-mal in Band 1, zweimal in Band 2 und dreimal in Band 3 berichtet, davon siebenmal bei Kindern, 13-mal bei Söhnen, siebenmal bei Männern. Häufig sind die schweren Folgen beschrieben: So hat ein Vater seinen Sohn »lassen schneid’n am stain vnd ward Im wirscher dan’ vorher v’haiss’n ward Im geholff’n« (1. Band, Mirakel 2.484). Oder nach der Operation wollte der Sohn »nit gesu’d werd’n vnd meret sÿ sein leiden« (1. Band, Mirakel 2.527). Ein Kind siechte danach ein halbes Jahr, bevor es nach Verheißung gesund wurde (1. Band, Mirakel 907). Oder ein zweijähriges Kind, das der Vater am Stein schneiden ließ, »da viel es In grosse kra’ckat also das es In dreÿ wochen nichz mocht niess’n den ein millich das verhÿesß er her sand grafrat vnd ward gesund« (1. Band, Mirakel 352). Manchmal gingen nach erfolgtem Steinschnitt noch weitere Steine ab. So hatte ein Vater »ein krancks kind am stain vnd ließ schneid’n dar an vnd ward Im nit geholff’n, aber da er es her v’hÿesß vnd zinsper machet, da ward es gesu’d vnd ein stain gieng von Im« (1. Band, Mirakel 880). Zweimal schneiden lassen musste sich der Sohn des Vaters S. Sch.: »der hatt ein siech’n sun am stain den liesß er zwiret schneid’n vnd kamen also vo’ Im zwen staÿn vnd da der wetag nit nach wolt lass’n da v’hÿesß er In her also darvm’ zestu’d gieng vo’ Im der dritt vnd ward also gesund« (1. Band, Mirakel 1.253). Glücklich verlaufen ist die Operation mit einem Instrument, wohl von der Harnröhre ausgehend, bei einem zweijährigen Sohn, der seit geraumer Zeit von Grießschmerzen hart geplagt wurde: »herverlobt wurde, worauf der Baad [Bader] mit einem Instrument der Stein gesucht und glücklich herausgebracht, auch Gott lob seither nichts mehr von den Kind verspürt worden« (3. Band, Mirakel 2.491). Nach den Textangaben auf einem der drei Votivbilder mit einem jeweils dort angebrachten nativen Harnstein ist einer bei einem siebenjährigen Knaben durch einen Landarzt (Chirurgus) glücklich operiert worden (Abb. 3b). Als Alternative zum Steinschnitt wurden Bäder oder Getränke angewandt. So wurde ein eineinhalbjähriges Kind mit »Namen Franziscuß«, das »ein Stain im Pleserle einer aßlnußgroß
3 / 4 Jahrlang gehabt, daran es grossen schmerzen erlitten«, von den Eltern mit einer jährlichen Kirchfahrt nach Grafrath verlobt; daraufhin »ist dem Khindt mit ainem Warmen bad vnd einem vom d verordneten trunckh, durch fürbitt deß heÿl: Grafraths ohne schnidt geholff[en] worden« (2. Band, Mirakel 181).
Aber es gingen auch Steine ab ohne fremde Hilfe: »ohn ander liest« (3. Band, Mirakel 2.253), »ohne andere Beihilf« (3. Band, Mirakel 2.390), so »das er kaines Arzt hilf bedarff« (1. Band, Mirakel 5.680).
Nach der Heilung war es Pflicht, das Gelübde nun auch einzuhalten. Bei Nichterfüllung konnte ein Rückfall erfolgen, in Anbetracht des Krankheitsverlaufs (Chronizität) des Harnsteinleidens auch nicht weiter verwunderlich.

Häufigkeit, Alters- und Geschlechtsverteilung

Der Anteil der Harnsteinleiden an den Gesamteintragungen liegt im 1. Band bei 12,2 %, im 2. Band bei 3,0 % und im 3. Band bei 3,8 %. Aus diesen Zahlen könnte man den Eindruck gewinnen, dass zwischen 1. und 2. Band, also ab etwa 1630/40, die Häufigkeit der Steinleiden sank. Andererseits sind in Band zwei und Band drei allgemeiner Leibschaden, Fieber, Fraiß, Unglücksfälle und Zustände, Pferde- und Vieherkrankungen 19 (vgl. Tabellen bei Kramer) häufiger ein Anliegen als im Band eins, sodass die wahre Inzidenz 20 des Harnsteinleidens nicht abgeschätzt werden kann. Betrachtet man bei den Harnsteinleiden den Kinderanteil in den einzelnen Bänden (1. Band: 77,3 %, 2. Band: 70,5 %, 3. Band: 75,7 %), so stellt man fest, dass dieser über den gesamten Zeitraum nur wenig schwankt.
Das Geschlechtsverhältnis männlich-weiblich liegt bei den Steinträgern im Kindesalter, wenn man die Angaben »Knaben« und »Söhne« versus die Angabe »Töchter« (meist ohne Altersangaben) in den drei Bänden auswertet, bei 18,6:1, bei erwachsenen Männern und Frauen bei 4,8:1.
Erwartungsgemäß sind auch einige Eintragungen zu finden, 21 in denen »Geschwister« an der Harnsteinerkrankung erkrankten (n = 43) oder »Vater und Kind« bzw. »Vater und Sohn« (n = 11), zum Beispiel aus München: »Item Lienhart obser derhatt sich vnd einen sun her zu(o) sand graf rat ver haissen am grieß vnd send des ab kömen« (1. Band, Matrikel 3.490). Da in der Infrarotspektroskopie keine Cystinsteine gefunden wurden, scheint die seltene vererbbare Cystinurie (mit typischen Cystinsteinen) in diesen Fällen als Ursache nicht wahrscheinlich, sondern wohl eher Umweltfaktoren.

Geografische Verteilung

Durch die obligatorische Ortsangabe der Mirakel lässt sich ihre geografische Verteilung, 22 aber auch speziell die der urologischen Erkrankungen 23 erschließen. Ein hoher Anteil der Harnsteinerkrankungen findet sich in der näheren Umgebung Grafraths wie im Landkreis Fürstenfeldbruck oder in Landsberg, Starnberg, Friedberg, Dachau, Wolfratshausen, Weilheim und besonders München (183 von insgesamt 613 Anliegen), aber auch überregional in Schwaben, Ober- und Niederbayern, Oberpfalz, Österreich oder Südtirol. Rasso war also weithin als Wundertäter bekannt.

Fassung der Steine und Votivtafeln

Bis auf wenige Ausnahmen (Gipssteine) sind die Steine kunst- voll eingefasst (Abb. 1 und 2). Es können auch mehrere kleine Steine, dann meist unter Glas, von einem Metallring zusammengefasst sein. In acht Fällen lässt die Gruppierung der Fassungen zu einem zusammenhängenden Stück (Abb. 1 und 2) auf nur einen Träger schließen. Dazu passen ähnliches Aussehen der Steine und die übereinstimmenden Spektren. Nach Art der Einfassung, zum Beispiel Zinngitterguss mit einem Putto mit glasüberfassten Harnstein datiert 1727 im Bayerischen Nationalmuseum, 24 lassen sich die Steine ins 18. oder 19. Jahrhundert datieren. Dass schon früher Steine in Silberfassung dargebracht wurden, zeigen Einträge in die Mirakelbücher. Ein in Silber gefasster Harnstein wird zum ersten Mal im Band 1, Mirakel 363, also um das Jahr 1450, erwähnt: »Item Vincenz stromair hatt gehabt ein hausfraw die fuoll In grosse kranckat vnd hett
dar zuo das grieß v’hÿesß sÿ her da gieng’n die stain von ir vnd ward gesund und liesß er die stain fassen In silber vnd prachtz also her sand graf ratt.« Ein Mann aus München ließ sogar seinen abgegangenen großen Harnstein in einen goldenen Ring fassen und herschicken (1. Band, Mirakel 5.018).
In Grafrath sind weiterhin drei Tafeln zu beachten, an denen native Harnsteine mit entsprechenden Texten angebracht sind: Zwei beziehen sich auf Kinder (Abb. 3a und b), eine auf einen Erwachsenen mit einem 25 x 30 mm großen Stein 25 und folgendem anrührenden Text:

»Lang litt ich an des Steines Schmerzen Als Kind schon hart gequält da wandt ich mich mit Vertrauen im Herzen zu Gott mich, der die Tränen zählt und fand Errettung, Dank dem Herrn er hilft in unserem Leiden gern«

Weitere sieben von 80 Votivtafeln haben das Harnsteinleiden zum Inhalt. Sie zeigen meist den dankbar Geholfenen kniend vor Graf Rasso mit entsprechenden Texten über Harnstein oder Gries, von dem er befreit worden ist, zum Beispiel ein neunjähriges Kind oder einen Mann bei gefährlicher Steinoperation 1856 (Abb. 4a und b).

Zusammenfassung

Die in Grafrath als Votivgaben dargebrachten abgegangenen Harnsteine, die nach Art ihrer Fassung aus dem 17. bis 19. Jahrhundert stammen, zeigen nach neuen Untersuchungen mittels Infrarotspektroskopie Harnsteinverbindungen, welche die Komponente Ammoniumhydrogenurat aufweisen. Dieseheute bei uns nur noch selten vorkommende Komponente war, wie aus einer englischen Sammlung aus dem 18. und 19. Jahrhundert ersichtlich ist, früher häufig und ist es noch immer in manchen armen ländlichen Gegenden wie Nordthailand. In Zusammenschau mit den Mirakelbüchern von Grafrath, die einen hohen Kinderanteil an den Harnsteinträgern dokumentieren, kann man folgern, dass der weitere Umkreis dieses Wallfahrtsortes (Schwaben, Oberbayern und sogar noch weiter) ein endemisches Blasensteingebiet darstellte, das Ernährungsfaktoren wie Eiweißmangel verursacht haben dürften. Die Durchsicht der Mirakelbücher zeigt die große Bandbreite der Anliegen, die den gesamten medizinischen Bereich betreffen, bis hin zur Sterbehilfe, und die kohäsive Kraft des Glaubens in der damaligen Gesellschaft bezeugen.

Anmerkungen:
Für die großzügige Bereitstellung der Objekte für unsere Untersuchung möchten wir uns bei den Patres des Klosters Grafrath und bei Frau Dr. Nina Gockerell im Bayerischen Nationalmuseum München bedanken. Besonderen Anteil zum Gelingen der Arbeit trugen die beiden medizinisch-technischen Assistentinnen bei: Frau Angelika Ellert für die sorgfältige Ab-
nahme und Messung der Steinproben, Frau Monika Güntner für die sorgfältige Schriftführung und Darstellung der Ergebnisse. Prof. Dr. Michael Vogeser und Dr. Jürgen Durner werteten die Infrarotspektren aus. Für die Bereitstellung der transskribierten Texte der Mirakelbücher, deren Edition geplant ist, möchten wir uns bei Herrn Josef Gulden bedanken. Besonderer Dank gilt Herrn Dr. Ernst Meßmer, der uns immer mit Rat und Tat zur Seite stand.

1 Richard Andree: Votive und Weihegaben des katholischen Volks in Süddeutsch-
land. Braunschweig 1904, S. 177.
2 Karl-Sigismund Kramer: Die Mirakelbücher der Wallfahrt Grafrath. In: Bayer.
Jahrbuch für Volkskunde 1951, S. 180. – Zur Geschichte vgl. Ernst Meßmer: Das
wundersame Grab von Graf Rasso. St. Ottilien 2004.
3 Christoph Döhlemann: Über urologische Leiden aus volkskundlichen Quellen
einiger Wallfahrtsorte aus dem 15.–18. Jahrhundert. Medizinische Dissertation.
München 1967.
4 Christoph Döhlemann/Angelika Ellert/Monika Güntner/Jürgen Durner/Nina
Gockerell/Ernst Meßmer/Michael Vogeser: Infrarotspektroskopie von alten Harn-
steinen aus den Votivgaben der Wallfahrtskirche Grafrath. In: Der Urologe 50 Anmerkungen:
(2011), S. 466 ff.
5 Kathleen Lonsdale/D. June Sutor/Susan E. Wooley: Composition of urinary
calculi by x-ray diffraction, collected data from various localities/Norwich. In:
British Journal of Urology 40 (1968), S. 33 ff.
6 Robert van Reen/Aree Valyasevi: Studies of bladder stone disease in Thailand
VIII Sulfate excretion by newborn and infants: possible relationship of protein
malnutrition to bladder stone disease. In: American Journal of Clinical Nutrition
20 (1967), S. 1378 ff.
7 Tabellen siehe Döhlemann (wie Anm. 4).
8 Robert Asper: Harnstein Analytik. Habilitationsschrift. Medizinische Fakultät
Universität Zürich 1982.
9 70–75 % der Harnsteinleiden betrafen Kinder.
10 Wie Anm. 6.
11 Aree Valyasevi/Robert van Reen: Pediatric bladder stone disease: current status
of research. In: Journal of Pediatrics 72 (1968), S. 546 ff.
12 Entstehung von Harnkonkrementen in den ableitenden Harnwegen bezie-
hungsweise Harnsteinerkrankung.
13 Angeborene und genetisch übertragene Störung in der tubulären (Nierenkanäle)
Rückresorption der Aminosäuren Cystin, Lysin, Ornithin und Arginin.
14 Vererbte, seltene Stoffwechselanomalien mit vermehrter Oxalsäureausscheidung
und Calziumoxalatkristallen im Urinsediment.
15 Hyperparathyreodismus mit vermehrter Calziumausscheidung im Urin.
16 Siehe Anm. 13.
17 Wie Anm. 3.
18 Calziumhydrogenphosphatdihydrat. Steine dieser Art werden als entzündliche
Phosphatkalksteine angesehen.
19 Vgl. die Tabellen bei Kramer (wie Anm. 2).
20 Gibt die Zahl der Neuerkrankungen an.
21 Wie Anm. 3.
22 Wie Anm. 2.
23 Wie Anm. 3, S. 89.
24 Inv.-Nr. 131/480.
25 Infrarotspektroskopie: Carbonat apatit 90 %, Struvit 10 % als Komponenten.

Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Christoph Döhlemann, Mathildenstr. 9, 82319 Starnberg

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Abb. 1a: Schaukasten der nördlichen Empore der Wallfahrtskirche Grafrath, Innenmaße 42 x 32,5 cm. In der Mitte von oben bis unten eine Vierergruppe von zusammenhängen-
den Metallherzen, darunter ein weiteres Herz, ein leeres Medaillon und ein geschwungenes Schild mit der Aufschrift »Jakob Zehler Müller’s Sohn von Schöngeising Ano 1804«.
Am oberen Herzen hängt rechts und links je eine Metallfassung mit Stein unter Glas, am mittleren Herzen hängen jeweils zwei Fassungen mit Steinen unter Glas, am unteren
Herzen beziehungsweise Medaillon jeweils zwei Fassungen mit multiplen Steinen unter Glas. Diese und vier andere konnten wegen der Glasfassung nicht untersucht werden.
Beachte das silberne Bein- und Armvotiv rechts und links am unteren Bildrand. Zur Übersicht wurden die Objekte beschildert. Von den 52 untersuchten Objekten (insgesamt 62 Proben) wurden bei 32 in der Infrarotspektroskopie als Hauptkomponente Ammoniumhydrogenurat (NH4U), bei acht Harnsäure, bei acht Oxalate, bei zwei Phosphate gefunden. Zwei waren nicht typisch (1 x Calcit, 1 x nicht auswertbar). Beim Stein im Bild rechts unten über dem Armvotiv, der unregelmäßig geformt sowie mit 4,2 x 4,7 cm auffallend groß ist und sich mit rötlicher Farbe präsentiert, fand sich innen und außen Gips; er ist somit nicht als echter Harnstein zu betrachten.

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Abb. 1b: Ausschnitt aus Abb. 1a: verschieden gefasste Steine: Der große, nur zum Teil sichtbare Stein rechts oben ist unter Glas; links davon sind vier Steine in einem gefasst, weil sie wohl von einem Patienten stammen. Zusammensetzung NH4U, bei den übrigen ebenfalls NH4U, außer dem in der Mitte (27), der Ca-Oxalat (Whe) + Carbonat-apatit (Kap) in der Zusammensetzung aufweist. Größe der Steine < 9 x 9 mm. abb003

Abb. 1c: Ausschnitt aus Abb. 1a: eingefasste Harnsteine, etwa 4 x 4 bis 12 x 3 mm groß. Zusammensetzung der linken drei Steine: Harnsäure (HS); der neben der Zahnwurzel rechts besteht aus den Komponenten Whe/Wed/Kap 50 %/25 %/25 %.

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Abb. 2: Ausschnitt aus dem Schaukasten Nr. 131/476-536 des Bayerischen Natio-
nalmuseums:
a) in einem prächtigen (Silber-)Teller (Durchmesser 4,5 cm) gefasster, 7 x 7 mm großer, unregelmäßig geformter Stein. Zusammensetzung NH4U

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b) rechts an a) anschließende, an einer Kordel hängende Steine. Zusammensetzung von rechts ausgehend: HS, NH4U, Glas bedeckt, Glas bedeckt, die perlartige Reihe wegen Gefahr der Zerstörung nicht untersucht, HS.

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Abb. 3a: Votivgabe in Grafrath in Form eines an einer Tafel aufgehängten Steines, 3 x 5 mm, gering höckerige Oberfläche mit Komponenten Whe 85 % und HS 15 % bei einem zweieinhalbjährigen Kind.

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Abb. 3b: 18 x 22 mm großer Stein, weiß höckerig: Newberyit und Brushit (Phosphate) als Komponenten bei einem siebenjährigen Buben; Text: »von diesem Steine wurde / Gabriel Promberger von hier / 7 Jahre alt am 5. April 1862 / durch den Landarzt Aurelius / Schneider von Denklingen / glücklich operiert«

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Abb. 4a: Votivtafel für Heilung eines neunjährigen Kindes von einem Sand- und Griesleiden

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Abb. 4b: Votivtafel für Genesung nach einer gefährlichen Steinoperation

Fotos: Katharina Kreye